Amerika - Vom Beschützer zum Erpresser
Nach langem Hin und Her klicke ich auf den Play-Button. Die Neugier siegt. Technosound dröhnt aus meinen Smartphone-Lautsprechern, während ich aus der Perspektive einer Drohne zusehe, wie eine Granate auf einen verletzten Soldaten abgeworfen wird. Sie trifft punktgenau und zerfetzt seinen Unterleib. Mit letzter Kraft richtet der dem Tod geweihte Soldat seine Waffe gegen sich selbst und jagt sich eine Kugel in den Kopf, um dem unausweichlichen Leid ein Ende zu setzen.
Warum zur Hölle habe ich dieses Video angeklickt?
Ich könnte kotzen.
Der Krieg ist real und er ist hier
Stunden später kreisen meine Gedanken noch immer um diese Szene. Der Soldat hatte keine Chance. Man hört die Drohne nicht, sie fliegt zu hoch. Man sieht nichts kommen. Plötzlich ein Knall. Und ein paar Minuten später ist man tot. Chancenlos. Keine Vorwarnung. Keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Krieg ist grauenhaft, im wahrsten Sinne des Wortes.
Ich habe mein Leben lang eine klare Haltung gegenüber Krieg und Aufrüstung vertreten: Dagegen.
Politisch habe ich immer gegen militärische Investitionen gestimmt. Ich sah sie als Geldverschwendung. All das Geld, dachte ich, könnte man sinnvoller einsetzen – für Soziales, Bildung, Gesundheit.
Ich glaubte fest daran: Wenn alle abrüsten, wird es irgendwann keinen Krieg mehr geben.
Ich lebte im Frieden, wie so viele in Europa, und hielt diesen Zustand für selbstverständlich.
Heute weiss ich: Das war ein statistischer Ausreisser. Eine Anomalie. Wir hatten einfach nur Glück. Und ich habe mich darauf verlassen, dass „die anderen“ uns schon beschützen würden.
Europas sicherheitspolitischer Tiefschlaf
Europa hat sich in eine bequeme Illusion gewiegt. Während Russland und China konsequent aufrüsteten, kürzten viele europäische Staaten ihre Verteidigungsetats. Die Hoffnung, dass man mit Diplomatie allein Kriege verhindern könne, hat sich als gefährlicher Trugschluss entpuppt.
Denn die unbequeme Wahrheit ist, dass sich Europa einem sicherheitspolitischen Schmarotzertum hingegeben hat. Wir haben uns stets darauf verlassen, dass die NATO mit den USA als Führungsmacht uns beschützt. Donald Trump mag in vielen Dingen inakzeptabel sein, doch wenn er Europa als sicherheitspolitischen Trittbrettfahrer bezeichnet, liegt er nicht ganz falsch. Europas Verteidigungsausgaben, sowohl absolut als auch relativ zum BIP, sind im Vergleich zu den USA ein Witz. Dabei bedeutet jeder Dollar, der in einen Panzer gesteckt wird, einen Dollar weniger für Soziales oder Bildung. Europa hat sich für den anderen Weg entschieden und sich damit erpressbar gemacht.
Aufrüsten für den Frieden?
„Si vis pacem, para bellum“ – „Willst du Frieden, bereite den Krieg vor.“
Diese Erkenntnis hatte der römische Militärtheoretiker Vegetius Renatus bereits vor über 1500 Jahren. Gemeint ist: Nur durch glaubwürdige Abschreckung lässt sich der Frieden sichern. Eine potenziell aggressive Macht muss davon überzeugt sein, dass ein Angriff mehr kostet, als er bringt. Das gelingt jedoch nur, wenn das angegriffene Land eine starke, kampfbereite Armee besitzt. In einem schwach verteidigten Land ist die Wahrscheinlichkeit für Krieg höher als in einem gut geschützten. So einfach und so bitter ist das.
Natürlich wäre es schön, in einer Welt ohne Armeen, ohne Waffen, ohne Aggression zu leben.
Ein Gedankenexperiment: Alle Länder vernichten ihr Militär. Es herrscht Gleichgewicht. Frieden.
Doch was passiert, wenn ein Land wieder beginnt, aufzurüsten?
Was sollen die Nachbarn tun? Zusehen? Oder ebenfalls aufrüsten?
Es braucht nur einen „bösen Akteur“, um eine globale Kaskade der Gewalt auszulösen.
So deprimierend das auch ist: Die zweitbeste Lösung scheint zu sein, dass alle Länder stark genug sind, um für potenzielle Angreifer uninteressant zu bleiben. Abschreckung durch Stärke.
America First
Unter Trump, vor allem in seiner zweiten Amtszeit, hat sich Amerikas Aussenpolitik drastisch verändert. Seine Vorgänger stellten zwar auch die amerikanischen Interessen an erste Stelle, doch sie setzten stärker auf Softpower. Es galt als Grundsatz, dass Amerika der Verteidiger westlicher Werte sei. Gute Beziehungen waren der Schlüssel. Man half sich gegenseitig, in dem Vertrauen, im Ernstfall selbst auf Unterstützung zählen zu können.
Böse Zungen würden sagen, es wurde mit Anstand und Respekt regiert. Amerika war schon immer eine Supermacht. Keine Nation der Welt konnte es wirklich herausfordern. Aber das war nie ein Problem, denn Amerika inszenierte sich als grosser Bruder. Einer, der beschützt, der hilft, solange man dankbar ist.
Mit Trumps „America First“ hat sich das grundlegend geändert. Softpower interessiert ihn nicht. Freundschaften spielen für ihn keine Rolle. Innerhalb kürzester Zeit hat Trump das Bild vom wohlwollenden grossen Bruder zerstört. Er macht deutlich, dass er keinen Respekt will, sondern Angst.
Der grosse Bruder beschützt nicht mehr, er erpresst. Wer nicht nach seinem Willen handelt, wird mit Zöllen belegt, bis er einknickt oder wirtschaftlich zusammenbricht. Ich frage mich, wie sich das langfristig auswirken wird. Denn in Wahrheit hat Trump alle Karten in der Hand. Natürlich fordern manche Gegenzölle oder mehr Eigenständigkeit. Aber letztlich kann nur eine breite Allianz ihn zum Einlenken bewegen. Softpower beeindruckt ihn nicht. Nettigkeit interessiert ihn nicht. Wer nichts gegen ihn in der Hand hat, wird ignoriert oder rücksichtslos übergangen.
Das Tragische an der ganzen Geschichte ist, dass wir uns selbst in diese Situation gebracht haben. Genau wie bei der Abhängigkeit von russischem Öl haben wir uns blind auf das Wohlwollen der Amerikaner verlassen.
Das kleinere Übel
Und was nun? Die Schweiz sieht sich damit konfrontiert, dass Donald Trump lächerlich hohe Zölle von 39 % fordert. Nicht, weil diese gerecht sind, sondern weil er es kann und er weiss, dass wir absolut nichts dagegen machen können. Natürlich gibt es wieder die Einzelnen, die schreien, dass man halt nichts mehr in die USA exportieren soll, aber dass dies total weltfremd ist, kommt bei vielen offenbar nicht an. Das Ziel von Donald Trump ist, dass mehr in Amerika produziert wird, denn wenn mehr in Amerika produziert wird, schafft er dort Arbeitsplätze und importiert Know-how – und so wie es aktuell aussieht, scheint sein Plan aufzugehen. Die Schweiz ist zu irrelevant, zu klein, als dass ein Handelsstopp Donald irgendwie beeindrucken könnte. Würden wir den Export stoppen, wäre das wirtschaftlicher Suizid für die Schweiz – und für Amerika im aller schlimmsten Fall ein kleines Ärgernis. Die Macht ist ungleich verteilt, die Abhängigkeiten klar. Alles, was wir machen können, ist die bittere Pille zu schlucken und darauf zu hoffen, dass der wirtschaftliche Schaden durch die Zölle in Grenzen bleibt. Viel wichtiger ist, dass wir daraus lernen. Dass wir in Zukunft darauf achten, dass wir uns nicht zu sehr von einem Handelspartner abhängig machen.
Die Schweiz hat als winziges Land kaum Hebel auf der internationalen Bühne. Wenn Softpower an Wert verliert und wieder mit härteren Bandagen gekämpft wird, wird die Schweiz schnell zum Spielball grösserer Mächte werden. Langfristig wird sich die Schweiz wohl oder übel – und es widerstrebt mir sogar, dies zu tippen – eine Annäherung an die EU überlegen müssen.
Ich fürchte, die fetten Jahre sind vorbei.