EU-Schulden bis zum Dach: Geldtopf ohne Deckel

Mit neuen Flexibelregeln gestattet sich die EU ab sofort einen noch tieferen Griff in den Schuldentopf.

Zum Schluss ging es rasend schnell. Kaum hatte das EU-Parlament den EU-Staaten einen Freibrief für die nächste Etappe der Staatsverschuldung gegeben, waren die frischen Flexibelregeln auch schon in trockenen Tüchern. Stolz vermeldeten die Agenturen die erfolgreiche Reform des sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakt, ehemals als Fundament der Geldunion gedacht, später aber durch dauerhafte Missachtung zur Lachnummer gemacht.

Die Sprachregelungen waren vom Europäischen Amts für einheitliche Ansagen (AEA) gleich mitgeliefert worden: Es handele sich um eine "Reform zur Begrenzung der Staatsschulden", eine Waffe gegen die "Austeritätspolitik", die Reform schreibe wie immer "Obergrenzen" für Schulden vor, bei Überschreitungen kämen weiterhin "Strafverfahren" infrage.  

Übersetzung aus dem Propagandistischen

Die Gebärdendolmetscherin Frauke Hahnwech, eine intime Kennerin von Berliner Bühne und Brüsseler Blase, übersetzt seit Jahren wegweisende EU-Papiere etwa zur "Just-Transition-Strategy" aus dem Politischen ins Deutsche. Die gebürtige Sächsin hat in Lyon und Klagenfurt Körpersprache studiert, sie versteht sich jedoch auch auf Simultanübersetzungen aus dem Propagandistischen. Für PPQ hat sich Hahnwech die Formulierungen aus dem AEA und der deutschen Bundesworthülsenfabrik angeschaut, mit denen der kurz vor den anstehenden EU-Wahlen exekutierte Beschluss, neue finanzielle Lasten ohne störende Diskussion auf den Schultern kommender Generationen abzuladen, verkauft werden soll.

PPQ: Frau Hahnwech, in den offiziellen Meldungen heißt es, die EU-Staaten erhielten nun etwas mehr Spielraum beim Schuldenmachen und Zurückzahlen. Wie ist das zu verstehen?

Hahnwech: Man muss das ganzheitlich sehen. "Etwas mehr" bedeutet im Politischen natürlich immer, dass es nie weniger als alles ist. Im Verfahrensverlauf dieser neuen Vorschriften für Staatsschulden und Haushaltsdefizite der Mitgliedsländer konnte man ja schön sehen, dass das alle ganz geräuschlos abräumen wollten. Mit Blick auf die Wahlen selbstverständlich, denn im Wahlkampf will sich niemand auf irgendwelche Sachdiskussionen einlassen, gar verschiedene Vorstellungen zur künftigen Entwicklung debattieren oder die Wählerinnen und Wähler entscheiden lassen. Das kann, da ist man sich in Brüssel wie in  Berlin sicher, immer nur nach hinten losgehen.

PPQ: Deshalb also haben EU-Parlament und EU-Ministerrat die sogenannten Reformpläne für den sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakt so schnell durchgewunken? Man hatte als Außenstehender doch eher den Eindruck, das sei nun mal eine gute Sache, alle einig und unterwegs in die richtige Richtung?

Hahnwech: Schauen wir uns doch einfach mal die derzeit laufenden Marketingmaßnahmen für diese  lange geplante und eigentlich ebenso lange vollkommen umstrittene Reform an. Da standen sich ja zwei Fronten gegenüber: Die einen wollten den ganzen Maastrich-Mist, wie sie es nennen, in die Tonne stopfen. Die anderen wollten wenigstens ein paar Regeln behalten, damit nicht alles ganz schnell außer Kontrolle gerät. Jetzt haben die ersten gewonnen, die zweiten aber haben erreicht, dass das löchrige Regelwerk jetzt verkauft wird als Paket, das die Budgetdisziplin der Länder sichern und damit solide öffentliche Finanzen garantieren soll. Nicht meine Worte, sondern ein Satz der EU. Übersetzt man das aus dem Propagandistischen ins Deutsche, steht da nichts anderes als dass Wörtchen soll.

PPQ: Was meinen Sie damit?

Hahnwech: Soll bedeutet nach den Grundregeln der Solltologie im Politikbetrieb immer, dass niemand es garantiert und niemand dafür geradestehen wird, weil, jeder weiß, dass es zwischen sollen und werden keinen inhärenten Zusammenhang gibt. Deshalb heißt es bei der protokollführenden deutschen Nachrichtenagentur DPA auch ausdrücklich, diese neuen Regeln gülten ,als wichtige Voraussetzung für die Stabilität in der EU und im Euro-Raum'. Meint: Sie sind es nicht. Schauen wir doch nur auf den Satz "Beim Übertreten bestimmter Obergrenzen können Defizitverfahren eingeleitet werden". Da haben wir eine Bestimmung mit ,können', früher sagte man Kann-Regel: Knallhart geht daraus hervor, dass ein Land Gegenmaßnahmen einleiten muss, um Verschuldung und Haushaltsminus zu senken, wenn es vorher allzusehr über die Stränge geschlagen ist. Und um das durchzusetzen hat sich die EU von den bisherigen Vorschriften getrennt, die dasselbe vorsahen, aber, so die offizielle Sprachregelung, "als zu kompliziert und zu streng angesehen" wurden.

PPQ: Das waren sie doch aber auch. 2002 bekam Deutschland noch einen vielbeachteten Blauen Brief aus Brüssel, aber danach stellte sich doch schnell heraus, dass die EU gar nicht das Personal hat, zu den ohnehin laufenden Hunderten von Strafverfahren gegen Mitgliedsländern auch noch gegen die Mehrheit der Staaten vorzugehen, die die Schuldenregeln dauerhaft verletzen.

Hahnwech: Deshalb hatte man ja die Pandemie als erste Gelegenheit genutzt, um diese Strafverfahren ungeachtet der Maastricht-Vorschriften auszusetzen. Zwar hat immer eine Mehrheit der EU-Staaten die Schuldenregeln missachtet, aber ab 2020 lagen die Staatsdefizite ja dann in fast allen EU-Ländern deutlich über der vorgeschriebenen Drei-Prozent-Marke. Damals fing man auch an, darüber nachzudenken, wie man so tun könne, als sei das eine Ausnahme, die nur ausnahmsweise akzeptiert werden, sich dabei aber die Möglichkeit verschafft, sie dauerhaft anzuerkennen, indem man die Regeln so ändert, dass sie sich an die Schulden anpassen und nicht umgekehrt.

PPQ: Und das ist nun gelungen?

Hahnwech: Das kann man sagen. Offiziell soll auch künftig in der EU gelten, dass das gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit unter drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen muss und der Schuldenstand eines Mitgliedstaates nicht 60 Prozent der Wirtschaftsleistung überschreiten darf. Wer das nicht schafft, kann aber anstelle von Sparprogrammen oder ähnlich ärgerlicher Dinge ab sofort Argumente anführen, warum die Regeln für ihn gerade nicht gelten können. Statt ihr Defizit mühsam abzubauen, reicht es, den Willen zu bekunden, in nächster Bälde damit anzufangen. Wobei jeder Regierungswechsel es erlaubt, diesen sogenannten Gnadenprozess neu zu beginnen.

PPQ: Im Fußball heißt das Zeitspiel. Aber irgendwann ist ja aller Erfahrung nach doch Schluss, oder?

Hahnwech: Für diesen Fall ist vorgesorgt. Muss die EU dann irgendwann doch zeigen, dass damit eines Tages Schluss sein muss, können die Mitgliedsstaaten weitere Zeit gewinnen, indem sie sogenannte "glaubhafte Reform- und Investitionspläne" vorlegen. Die schaut sich die EU-Kommission dann lange an, um es den Delinquenten leichter zu machen, kann sie bei Regierungen, denen sie gewogen ist, sogar die mutmaßliche künftige Zinsentwicklung gegenrechnen, so oder so. Und hilft das alles nicht, besteht die Möglichkeit, den Antrag zu stellen, den Zeitraum zur Schuldenverringerung zu verlängern. Das ist ausdrücklich ,mehrfach' möglich, wobei ,mehrfach' natürlich nach oben offen ist.

PPQ: Klingt nach Treibsand und nach Anarchie. Es ist doch kaum vorstellbar, dass solche windigen Regelungen als Ersatz für die zumindest auf dem Papier recht eindeutigen Maastrich-Kriterien durchgehen? 

Hahnwech: Ach, doch, daran bestand nie ein Zweifel. Selbstverständlich gibt es durchaus Kritiker der neuen Regeln betonen, aber die sind in sich gespalten. Die einen bemängeln, dass hier gerade die Bodenplatte für die nächste Staatsfinanzkrise gegossen wird. Den anderen aber geht die Aufweichung der Regeln auf einen symbolischen Rest nicht weit genug, sie würden gern gar keine Grenzen mehr haben, um sich mit Hilfe von Klimaschutz- und Transformationsinvestitionen noch schnell eine goldene Nase zu verdienen. Beide haben keine Chance, denn die Öffentlichkeit hat es am liebsten, wenn ihr konsequent etwas vorgemacht wird. Dass der Deckel jetzt vom Geldtopf ist, wird deshalb als  Wahrung der finanzpolitischen Stabilität bezeichnet, die selbst Fachleute verwirrende Vielfalt der Vorgaben, Ausnahmen und Antragsverfahren heißt ,klare Regeln für den Schuldenabbau', die im Ernstfall ,mit einer realistischen Perspektive durchgesetzt werden können'. Nicht meine Worte, sondern die des deutschen Finanzministers Christian Lindner. 



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